Teresa Reichl: "Es ist Zeit für eine Literaturrevolte!"
Teresa Reichl liebt Literatur – ist aber der Ansicht, dass es dringend einen neuen Blick darauf braucht, insbesondere auf so genannte "Klassiker, die man gelesen haben muss" (und die laut Reichl in den meisten Fällen von weißen cis-Männern aus privilegierten Verhältnissen stammen). Die Kabarettistin, Poetry Slammerin und studierte Germanistin (auch auf Lehramt) unterhält und informiert ihre rund 50.000 Follower:innen auf Instagram, TikTok und YouTube über die Themen Literatur, Feminismus und darüber, "was wir in der Schule gerne gelernt hätten".
Im März 2023 erschien nun ihr Buch "Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht – und wie wir das jetzt ändern" im Haymon Verlag.
Teresa Reichl fordert neue Sicht auf Literatur
Damit verfolgt die gebürtige Niederbayerin gleich mehrere Ziele. Sie möchte etwa eine "beliebte Unwahrheit" entkräften: Dass Jugendliche angeblich nicht mehr lesen. Statt Vorwürfe und mahnende Zeigefinger brauche es vielmehr einen neuen Zugang. Nicht die Frage, wie gelesen wird, sondern was gelesen wird, sei gerade in den Schulen kritisch zu beleuchten, so Teresa Reichl. Konkret fordert sie ein "Aufräumen mit den verstaubten Literaturlisten und den ewig gleichen Autoren (!)," gar eine "Literaturrevolte" möchte sie anzetteln. "Was zur Hölle sind Klassiker in der Literatur überhaupt, wer entscheidet das denn? Warum sind die so toll, dass ich sie 300 Jahre später auch noch lesen soll? Mein ganzes Studium habe ich Werk um Werk um Werk gelesen, ohne dass mit jemand erklärt hat, wieso die eigentlich so berühmt geworden sind. Was können wir, die Erwachsenen, Lehrkräfte und Menschen, die Literatur vermitteln, tun, um den Zugang zu Klassikern leichter und diverser zu machen?"
Reichls Buch ist dabei in drei Teile gegliedert. Zunächst geht es auf grundsätzliche Fragen ein, gerade für Menschen, die den Zugang zum Literaturgenuss vielleicht verloren haben: "Wozu ist Literatur eigentlich gut, was nützt mir das Analysieren und Interpretieren von Literatur fürs Leben?". Ein Spoiler gleich an dieser Stelle: Wir lernen, dass wir Literaturanalyse tatsächlich ständig im Alltag brauchen, nahezu immer und überall. Auch geht Reichl anhand von Studienbeispielen auf die vielen positiven Effekte des Bücherlesens auf Körper und Psyche ein. Und meint: "Wir müssen richtig was verschissen haben, wenn trotz all diesen Argumenten und Fakten immer weniger gelesen wird, vor allem unter Jugendlichen."
Alte Themen, alte Perspektiven
Der zweite Teil ihres Buchs widmet sich dem – angeblich neutralen und objektiven – Schulkanon mit seiner Literaturauswahl. Und wieso stets (weiße) Männer aus gehobenen Bildungsschichten darin tonangebend sind. Obwohl Schulen sehr frei in der Auswahl der Werke für den Unterricht seien, würde sich in den Literaturlisten nämlich nur wenig Abwechslung und noch weniger Diversität wiederfinden, verortet Reichl. Hier fordert sie ein zeitgemäßes Umdenken, denn: "Ich finde nicht, dass Jugendliche schuld sind, wenn sie Klassiker nicht verstehen oder nichts mit ihnen anfangen können und deshalb keinen großen Aufwand betreiben, um sie zu verstehen. Die Sprache ist alt, die Themen sind alt, die Perspektiven sind alt, problematisch und immer die gleichen."
Reichl will Literatur (bzw. von weißen cis-Männern geschriebene Literatur) nicht canceln, wohl möchte sie aber das Spektrum erweitern, aufzeigen, was es noch so gibt, die Lust wecken, Neues zu entdecken (und dabei vielleicht auch wieder in Altes hineinzuschmökern). "Versteht mich bitte nicht falsch: Ich liebe Literatur, auch klassische Literatur. Nur war ich damit vor zehn Jahren schon die Ausnahme im Klassenzimmer, und das ist so, so schade", so die 27-Jährige.
Gegen Diskriminierung in der Literatur
Der dritte Teil des Buches zeigt für Interessierte auf, wen und was es da noch so neben all den bekannten Namen aus der klassischen Literatur gibt. Dabei nennt sie zahlreiche Werke von Frauen, (gender)queeren, Bi_PoC-Autor*innen (Black, Indigenous, People of Colour) sowie solchen aus anderen marginalisierten Gruppen, die nicht nur erst einige Jahre alt sind und laut Reichl ihren rechtmäßigen Platz in der Mitte der Must-Read-Literatur finden sollten. "Ich liebe Klassiker wirklich. Jedoch fühle ich mich betrogen um so viele Blickwinkel und Geschichten, die es gibt." Ihr erklärtes Ziel sei es daher, den Literaturkanon "so divers, intersektional und diskriminierungssensibel wie nur möglich" zu machen.
Das macht sie in ihrem rund 230-Seiten-starken Buch in moderner Sprache (mit zahlreichen "Fancyschmancy"-Anglizismen) und viel Humor (unbedingt die Fußnoten mitlesen!). Praktisch: Am Schluss jedes Kapitel fasst sie nochmal die Conclusio des eben beschriebenen Inhalts leicht verständlich und amüsant zusammen und hinterlässt den einen oder anderen Denkanstoß. Stellenweise wird Reichl dabei zwar sehr subjektiv (etwa in ihrer glühenden Verachtung zu Thomas Mann) – aber was ist literarischer Diskurs, wenn nicht viel Subjektivität?
Fazit: Am Ende des Buches ist der eigene Blick auf gängige, wichtige (?) Klassiker vielleicht ein breiterer und kritischerer geworden. Und wenn nicht das, so bekommt man zumindest Lust, mal wieder einen echten Roman in die Hand zu nehmen. Und das ist schließlich auch schon etwas.
Wer nun diesen Artikel von Anfang bis Ende durchgelesen hat, darf sich gratulieren: Sie haben heute bereits Ihr Gehirn stimuliert und etwas für die Verbesserung Ihrer sprachlichen Fähigkeiten und Ihres Gedächtnisses getan!
Und wer live mehr dazu hören möchte: Teresa Reichl ist mit ihrem Buch aktuell auf Tour. Ihr Termin am 7. April in der Wiener Sargfabrik musste krankheitsbedingt leider kurzfristig verschoben werden, ein Ersatztermin soll aber folgen. Bereits gekaufte Tickets behalten ihre Gültigkeit.