Beatrice Frasl: "Das Klischee des 'hysterischen Weibes' ist noch vorhanden"
Immer häufiger werden psychische Erkrankungen in den Medien und auf Social Media zum Thema gemacht. Grundsätzlich eine gute Sache, könnte dieser Umstand schließlich dazu dienen, alte Tabus aufzubrechen. Und oft liest man in den Kommentaren bei derartigen Posts: "Geh doch zur Therapie, dafür muss man sich nicht schämen!". Stimmt absolut. Aber was, wenn man nicht zur gewünschten Therapie gehen kann, weil diese privat schlichtweg nicht leistbar ist und man (oft monatelang) auf einen Krankenkassentherapieplatz warten muss?
Beatrice Frasl im Interview: "Das Patriarchat macht krank"
Genau das ist der gängige Status Quo in Österreich. In ihrem Buch "Patriarchale Belastungsstörung - Geschlecht, Klasse und Psyche" (Haymon Verlag) geht Autorin, Kolumnistin, Geschlechterforscherin und Podcasterin Beatrice Frasl den Klassenunterschieden bei psychischer Gesundheitsversorgung auf den Grund. Und erklärt, warum uns vor allem die patriarchalen Strukturen, in denen wir leben, krank machen. Denn: "Wir sind alle betroffen. Aber manche sind betroffener".
Man sollte meinen, dass das Thema psychische Gesundheit uns alle gleich betrifft, aber du legst in deinem Buch den Fokus auf Frauen. Warum?
Es ist ein Thema, das uns alle betrifft, das möchte ich betonen. Nur, wenn wir das verstehen, wird auch der politische Druck groß genug, dass sich etwas verbessert im Gesundheitssystem. Ich habe mich in meinem Buch auf zwei Dinge fokussiert, zum einen das Thema Geschlecht. Ich habe mir angeschaut, warum gerade Frauen von psychischen Erkrankungen so oft betroffen sind. Das zweite war das Thema Klasse.
Wir leben in Strukturen, die dazu führen, dass Frauen eine Reihe von Risikofaktoren tragen, die Männer nicht oder nur viel geringer tragen. Das ist natürlich mit dem Aspekt "Klasse" verwoben, weil diese sozioökonomischen Strukturen, die Ungleichheit der Verteilung in unserer Gesellschaft, auch mit den Geschlechterverhältnissen zusammenhängt.
Kannst du Beispiele dafür nennen?
Es ist nicht überraschend und auch durch Studien belegt, dass armutsbetroffene Menschen sehr belastete Leben führen. Das wiederum führt dazu, dass sie eher gewisse körperliche, aber auch psychische Erkrankungen ausbilden als wohlhabende Menschen. Armutsbetroffene Menschen neigen viel eher zu Depressionen oder Angsterkrankungen. Eh klar, wenn man jeden Cent fünf Mal umdrehen muss und nicht weiß, wie man die nächste Miete bezahlen soll.
Was hat das nun mit patriarchalen Verhältnissen zu tun?
Die meisten armutsbetroffenen Menschen sind Frauen, weil – und hier greifen die ökonomischen Ungleichheiten mit der Geschlechterungleichheit ineinander – wir eben in patriarchalen Verhältnissen leben. Frauen verdienen weniger als Männer, sie werden schlechter bezahlt für die gleiche Arbeit, haben weniger Vermögen, arbeiten öfter Teilzeit, bekommen dann deutlich weniger Pension, ... natürlich stürzen deshalb viele Frauen in die Altersarmut. Außerdem sind 93 Prozent der Alleinerziehenden in Österreich Frauen. Sie sind die größte erwerbstätige Gruppe in Österreich, die von Armut betroffen ist.
Das sind zwei Beispiele, die vor Augen führen: Ja, es hat viel mit ökonomischer Ungleichheit zu tun. Doch diese ist nicht geschlechtsneutral, weil wir in patriarchalen Verhältnissen leben, die Frauen den Männern strukturell unterordnen, die die Arbeit von Frauen schlechter bewerten und Frauen oft verarmen lassen.
Was sich wiederum auf die Psyche auswirkt.
Genau. Frauen werden doppelt so häufig mit einer Depression oder Angsterkrankung diagnostiziert, weil sie eben belastetere Leben führen. Und neben den sozioökonomischen Faktoren kommen auch noch Gewaltsituationen hinzu. Frauen sind auch in viel höherem Ausmaß als Männer von sexualisierter Gewalt oder von Gewalt in Partnerschaften betroffen. Das ist wohl keine Überraschung, wir alle wissen, wie viele Femizide es leider in diesem Land gibt. Österreich liegt da im traurigen Vorreiterfeld in Europa. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir reden nicht nur von körperlicher Gewalt, es gibt viele Fälle von ganz schlimmer psychischer Gewalt oder finanzieller Kontrollgewalt gegen Frauen. Das ist besonders zermürbend. Viele Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, erzählen von der langen Vorlaufzeit an Kontrolle, bei der nach und nach ihr Selbstwertgefühl zerstört wurde.
Sprich wir haben ökonomische Ungleichheit, Gewalt und dann auch noch strukturelle Dinge, die schwer zu greifen sind.
Zum Beispiel?
Einengende Schönheitsnormen und Körperunzufriedenheit. Depressionen werden bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern, aber bei Essstörungen haben wir sogar ein Verhältnis von 6:1.
Hinzu kommt, dass wir Frauen allein durch die Möglichkeit, dass uns Gewalt zustoßen könnte, sozialisiert werden. Wir alle lernen von klein auf, dass es nicht wurscht ist, wie wir uns auf der Straße bewegen oder was wir anhaben, dass wir im Club auf unsere Getränke aufpassen sollen, dass wir im Aufzug nicht alleine mit einem fremden Mann stehen sollen … jede Frau kennt wohl einen Katalog an Maßnahmen, damit ihr dieses und jenes nicht passiert. Das trifft auf Männer in der Regel einfach nicht zu. Durch dieses Gefühl "Wir sind diejenigen, die Opfer werden können" werden Frauen sozialisiert. Das prägt die Psyche mit.
Eine Passage im Buch ist mir sehr im Gedächtnis geblieben: Du beschreibst ein ZIB 2-Interview während der Pandemie, bei dem heimische PolitikerInnen zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung zuhause befragt wurden. Und die Antwort des anwesenden ÖVP-Politikers war, es klappt wunderbar bei ihm daheim, weil seine Frau sich darum kümmert.
Das ist die Realität in vielen Familien: Die Frau kümmert sich eben um die Kinder. Doch die Mehrfachbelastung durch Job und unbezahlter Care-Arbeit ist ebenfalls ein Risikofaktor zur Entwicklung von psychischen Erkrankungen, wie etwa der Gender-Gesundheitsbericht von 2019 betont. Und das hat sich in der Corona-Pandemie natürlich multipliziert.
Du bist für eine "Repolitisierung von Depression", da diese nicht nur biologische Ursachen hat, siehe Corona-Pandemie als Beispiel. Die Zahlen an Menschen mit psychischen Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu. Dennoch beträgt der Durchschnitt an staatlichen Gesundheitsausgaben für psychische Gesundheit nur sehr wenige Prozent. Wie kann man sich das erklären?
Das Argument ist natürlich immer ökonomisch, nach dem Motto: "Wir können ja nicht allen Leuten Psychotherapie finanzieren!" Diese Sichtweise finde ich sehr kurzsichtig. Denn: Wenn Personen nicht die Hilfe kriegen, die sie brauchen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich ihr Leiden chronifiziert und verschlimmert. Und man sieht, dass mittlerweile sehr viel Geld EU-weit ausgegeben wird, weil zahlreiche Menschen aufgrund ihrer Belastungen in Frühpension oder auf lange Reha gehen müssen, oder komplett arbeitsunfähig werden. Also entstehen auf der anderen Seite eigentlich noch größere Kosten, als wenn man den Menschen Hilfe in Form von Therapie zur Verfügung stellt.
Das ökonomische Argument geht also nicht auf.
Richtig. Und wir sehen, dass die Kosten aufgrund von Depressionen in die Höhe schnellen. Daher wäre ein Gegensteuern hier allein ökonomisch gesehen schon klug. Mal abgesehen davon, dass natürlich auch menschliches Leid dahintersteht. Denn im schlimmsten Fall versterben Leute an psychischen Erkrankungen. Suizid ist mittlerweile die zweithäufigste Todesursache bei den jungen Menschen.
Warum scheint bei politischen EntscheidungsträgerInnen die Alarmglocke nicht lauter zu läuten?
Es herrscht zu wenig politischer Druck, obwohl es ein wahlentscheidendes Thema sein könnte! Ein Problem ist, dass psychische Erkrankungen noch immer sehr tabuisiert werden. Viele EntscheidungsträgerInnen glauben wohl, dass man sich eh "zamreißen" und weitermachen kann. Diese Denkweise scheint noch stark vorhanden zu sein, auch unbewusst. Es ist nicht Sichtbares, man kann psychische Erkrankungen nicht in einem Bluttest feststellen. Und was man nicht sieht, kann man leichter ignorieren.
Du prangerst in deinem Buch an, dass wir, wenn es um psychische Gesundheit bzw. Krankheit geht, oft so tun, als "ginge uns das alles nicht an". Woher kommt diese "Kultur des Wegschauens"?
Weil wir psychisch erkrankte Menschen noch immer als „die anderen“ sehen. Dabei können wir alle oder jemand aus unserem nahen Umfeld einmal psychisch erkranken, die Chance ist sogar recht hoch. Doch noch immer ist uns das nicht so bewusst, weshalb der Großteil von uns glaubt, es hat mit uns nichts zu tun, ob es nun genug Kapazitäten in der Psychiatrie gibt oder ausreichend Therapieplätze auf Krankenkasse. Deshalb kann die Politik auch so tun, als wäre das Thema nicht wichtig.
Du gehst auch auf die Problematik ein, dass Psychotherapie in Österreich ein "teures Luxusgut" ist und unser Gesundheitssystem die Behandlung psychischer Erkrankungen weitgehend "zur Privatsache" macht – im Gegensatz zu Deutschland.
Man muss sich das so vorstellen: Angenommen, du hast die Grippe, und gehst zum Arzt, der sagt dir aber: Tut mir leid, die Kasse zahlt mir nur fünf Behandlungsplätze, die sind schon voll. Dann hast du als Patient die Möglichkeit, die Behandlung selbst zu bezahlen oder du wartest und kommst in ein paar Monaten wieder … wann auch immer der Platz eben frei wird. Bei den meisten körperlichen Erkrankungen wäre das ein untragbarer Zustand. Bei psychischen Erkrankungen ist es aber auch untragbar, sie können ebenfalls chronisch bis hin zu fatal werden. Doch diese Situation ist der Alltag, weil es eben viel zu wenige Psychotherapieplätze auf Kasse gibt. 80 Prozent der Therapieeinheiten in Österreich werden privat bezahlt. Wenn man also einmal pro Woche zur Therapie geht und pro Stunde zwischen 80 und 160 Euro bezahlt, ist man im Monat schon bei rund 500 Euro. Das können sich viele einfach nicht leisten! Und die müssen eben monatelang auf einen Therapieplatz warten.
Davon erzählst du auch aus der Sicht einer Betroffenen.
Ich habe selbst damals gesucht, und die geringste Wartezeit, die mir genannt wurde, war in Wien ein halbes Jahr, die längste sogar zwei Jahre. Ich kenne niemanden, der weniger als drei, vier Monate auf einen Psychotherapiekassenplatz gewartet hat. Man muss sich außerdem bewusst sein, dass in dem Moment, wo ein Mensch einsieht, dass Psychotherapie notwendig ist, bereits ganz viel vorher passiert ist. Viele brauchen lange, um sich überhaupt dazu aufzuraffen, in Therapie zu gehen, weil es noch immer so tabuisiert wird. Nicht selten ist es bereits kritisch … und dann wird den Leuten gesagt, dass sie ein paar Monate warten müssen, um überhaupt einen Platz zu bekommen!
Zurück zu Problematik der patriarchalen Verhältnisse: "Diagnosen orientieren sich historisch als auch gegenwärtig an der Norm des Männlichen" schreibst du in deinem Buch – obwohl es erwiesen ist, dass Männer und Frauen unterschiedliche physische Symptome bei Krankheiten haben, Beispiel Herzinfarkt. Warum herrscht noch eine Orientierung an der männlichen Norm?
Es ist historisch natürlich so gewachsen. Man muss aber auch sagen, dass sich da mittlerweile vieles tut, die sogenannte Gender-Medizin hat in den letzten Jahren bereits einiges an Fortschritt gebracht.
Dennoch werden Frauen weitaus eher falsch oder unterdiagnostiziert bzw. ihre Erkrankungen als "psychosomatisch" deklariert, wie du in deinem Buch ebenfalls kritisierst.
Die Idee von "Verrücktheit" ist historisch sehr eng mit der Weiblichkeit verknüpft. Ich habe daher auch versucht, die Geschichte der Hysterie zu erklären. Ich glaube, es gibt da immer noch Nachwirkungen. Wenn eine Frau erkrankt, wird noch oft gedacht, sie sei "hysterisch", sie "übertreibt" oder ist „empfindlich“. Weibliches Leiden scheint nicht so ernst genommen zu werden, was auch in vielen Studien belegt wurde: Etwa, dass Frauen in Notaufnahmen tendenziell länger warten müssen als Männer. Das Klischee des "hysterischen Weibes" scheint leider noch vorhanden zu sein, selbst wenn es den Leuten gar nicht bewusst ist. Viele Studien zu Krankheiten, Medikamenten oder auch Impfungen wurden nur an Männern durchgeführt. Das ist auch ein Grund, warum Krankheiten bei Frauen oft nicht erkannt werden, weil sie einfach andere Symptome haben als Männer.
Dein Buch ist als Plädoyer für eine bessere Gesundheitsversorgung in Österreich zu verstehen. Wie waren bisher die Resonanzen? Gab es Reaktionen von politischen EntscheidungsträgerInnen?
Bislang nicht, das habe ich mir aber auch nicht erwartet. Ich habe aber von vielen LeserInnen Resonanz bekommen. Mir war es wichtig, dass Menschen, die vielleicht selbst betroffen sind, sich in diesem Buch wiederfinden, sich verstanden und weniger alleine fühlen. Natürlich wäre es ein großer Wunsch von mir, dass das Thema aufgrund des Buches mehr in die öffentliche Debatte rückt und sich doch noch etwas im Gesundheitssystem verändert.
Buchpräsentation: Beatrice Frasl liest aus "Patriarchale Belastungsstörung" am 17. Jänner (19.00 Uhr) im Thalia W6 auf der Mariahilfer Straße.
Wenn du eine Therapie in Anspruch nehmen willst:
Unkompliziert zur telefonischen Erstberatung: Es gibt eine psychotherapeutische Erstberatungs- und Info-Hotline. Sie ist ein kostenfreies, vertrauliches, professionelles und anonymes Angebot.
Du suchst einen kassenfinanzierten Therapieplatz? Hier erfährst du, wie du am schnellsten zu einem Therapieplatz kommst.
Wer Selbstmordgedanken hat oder an Depressionen leidet, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits ein einzelnes Gespräch. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist, kann sich rund um die Uhr kostenlos unter der Rufnummer 142 an die Telefonseelsorge wenden. Sie bietet schnelle erste Hilfe an und vermittelt ÄrztInnen, Beratungsstellen oder Kliniken: www.suizid-praevention.gv.at