© Milena Braune

Theater

Tip the Ivy

Showtimes

Vergangene Showtimes

Gruppenausstellung mit Dia Dear, Bully Fae Collins, Colin Self, Mica Sigourney, Vera de Vienne und Geo Wyeth ein.

Die Halle für Kunst Steiermark freut sich in Zusammenarbeit mit dem Performance Space, New York Tip the Ivy (2022), ein experimentelles Opernstück des amerikanischen nicht-binären Komponisten/​in und Künstler/​in Colin Self (*1987 Aloha, USA) zu präsentieren. Zwischen Performance, Partizipation, Forschung und Aktivismus angesiedelt, reagiert Self stets auf die lokalen und sozialen Gegebenheiten der Produktionsstätten an welchen die Stücke entstehen. Tip the Ivy umfasst so nicht nur ein performatives Stück, sondern ist gleichsam Rechercheprojekt, das sich mit Verschlüsselung von Information durch eine queere Perspektive auseinandersetzt. 

Im Kern des Projekts steht die Auseinandersetzung und Ergründung von Polari, einer Slangsprache, die vor allem zwischen den 1930er- und 1970er-Jahren in Großbritannien von Homosexuellen verwendet wurde, die aufgrund der drohenden Kriminalisierung ihrer Sexualität Polari, als eine verschlüsselte Form der Kommunikation entwickelten. Ursprünglich berief sich diese Sprache auf romanische Zweige des Italienischen und wurde im Laufe der Jahrzehnte ebenfalls durch jiddische Ausdrücke und Straßenjargon weiter beeinflusst. Selfs Recherche zu Polari besteht einerseits darin die fast vergessene Sprache wieder zu erlernen und andererseits die Rolle und Bedeutung von verschlüsselter Information im Kontext einer queeren Geschichte zu ergründen um sie für gegenwärtige Phänomene produktiv zu machen. Auch wenn Queerness immer weniger einen Grund der Ausschließung und Marginalisierung innerhalb eines westlichen Kontextes bedeutet, muss stets um Akzeptanz für nicht heteronormativen Lebensformen innerhalb eines globalen Kontextes gekämpft werden. 

Self interessiert sich im Bezug darauf nicht nur für Sprachen wie Polari, sondern auch für jene queere Gemeinschaften, die auf Grund ihrer Kriminalisierung und Verfolgung notwendigerweise eine solche Sprache entwickelten. Ausgehend von Polari recherchierte Self unterschiedliche Erzählungen, die sich mit der Kriminalisierung von Queerness beschäftigen. 

Als Vorlage für eine der Rollen in Tip the Ivy diente beispielsweise die Romanfigur Querelle, ein Matrose der im gleichnamigen Buch von Jean Genet in homoerotische Beziehungen verflochten ist und um Macht, Begehren und Geld ringt. 

Eine weitere wichtige Figur für die Recherche und das Performanceprojekt stellt Werner Obermeyer (*in Graz) alias Vera de Vienne dar. Self begegnete Obermeyer während einer Residency in Graz und lernte die schillernde Geschichte des Travestiekünstlers und Gender-Illusionisten kennen: in jungen Jahren debütierte Obermeyer als Baletteleve an der Grazer Oper um dann schließlich in den unterschiedlichsten Etablissements der Hamburger Reeperbahn Bühnenerfahrung zu sammeln. Ab den 1960er-Jahren reiste er gemeinsam mit seinem Lebensgefährten unter dem Namen Mademoiselle X & Partner durch Europa. In den verschiedenen Kontexten traten die beiden in großen offiziellen Veranstaltungsorten oder in inoffiziellen Lokalen auf, die von verschiedenen queeren Gemeinschaften besucht wurden.

Je nach Kontext wurden ​klassische“ Revuen oder Aufführungen angeboten, die man heute als Drag-Shows bezeichnen würde. Letztere setzten sich aus einer Mischung von Tanz, Gesang und erotischen Szenen zusammen. Self interessiert sich im Bezug auf die Arbeit und das Leben von Obermeyer für die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Figur Vera de Viennes innerhalb von offiziellen und subkulturellen Räumen, als auch die unterschiedlichen Codes durch die Queerness damals vermittelt wurde. Im Zuge der Arbeit an Tip the Ivystudierte Self einige Choreografien Obermeyers ein um diese nicht nur innerhalb des Stückes gemeinsam mit ihm darzubieten, sondern auch um ein ​Körperarchiv“ zu initiieren, das auf dem Nachspiel und der performativen Wiederholung als Mittel zur Bewahrung marginalisierter performativer Praktiken basiert.

Für das Stück Tip the Ivy wählt Self den erzählerischen Rahmen eines Gefängnisses in denen Insassen zwischen Realität und Traumwelt versuchen Freiheit zu erlangen. Eine der Figuren ist dabei weniger ein tatsächlicher Mensch sondern ein Avatar, der mittels Handyscreen kommuniziert. Diese Rolle wurde unter anderem durch verschiedene reale Profile von Tik Tok-Nutzer_innen inspiriert, die vor allem in nicht-demokratischen Ländern durch unterschiedliche Bewegungsabfolgen wie beispielsweise im Rahmen von Make-up Tutorials sonst zensierte Information über die sozialen Netzwerke teilen.

Tip the Ivy ist ein Projekt, das basierend auf Kollaboration und gemeinschaftliches Arbeiten die positive Kraft queerer Gemeinschaften einerseits hervorkehrt und andererseits die bitteren politischen Realitäten unter Überwachung und Zensur im Hier und Jetzt als experimentelle Oper inszeniert. Dies gelingt Self durch eine Neuinterpretation des klassischen Genres, in dem er Stimmen und Gesang als kollektive Kraft begreift. Hierzu entwickelte Self XOIReine neue Technik des Gruppensingens. Der Schwerpunkt liegt hier nicht auf dem Rezitieren von Notenblättern, sondern dem somatischen Bewusstsein und der gemeinschaftlichen Organisation von Körpern und Stimmen.

Colin Self war 2021 Artist-in-Residence an der HALLE FÜR KUNST. Tip the Ivy wurde von der HALLE FÜR KUNST Steiermark initiiert und vom Performance Space, New York mitproduziert. Die Performance wird im Mai 2022 im Performance Space gezeigt.

Kuratiert von Cathrin Mayer