Drei Frauen liegen auf der Bühne.

© Reinhard Winkler/theaternyx

Theater Wien

Viel Gefühl: Annie Ernaux' "Die Jahre" im Kabelwerk

In ihrem autobiografischen Roman "Die Jahre" erzählt Annie Ernaux über ein Frauenleben, das 1940 beginnt und bis zum Epochenbruch des 9/11-Terroranschlags verfolgt wird. 2008 erschien das Buch im Original, 2017 auf Deutsch. 2020 brachte Claudia Seigmann mit ihrer Gruppe theaternyx* den Text im Posthof Linz auf die Bühne und nun, ein Jahr, nachdem die Französin mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist die Produktion erstmals in Wien zu erleben.

Nichts nachspielen, sondern erzählen

Im oberen, kleineren Spielraum des Kabelwerks in Meidling, wo nach dem "Werk X" nun das "Theater am Werk" ist, kann man sich, umgeben von schwarzen Stoffbahnen, ganz auf die bestechend einfache Bühne von Paul Horn, die drei Darstellerinnen und den Text konzentrieren. Denn Seigmann, die auch die Textfassung erstellt hat, lässt nichts nachspielen, sondern alles erzählen. Der 100-minütige Abend gleicht mehr einer szenischen Lesung, auch wenn bis auf die Beschreibungen einzelner Fotos nichts vorgelesen, sondern alles auswendig gesprochen wird.

Marie-Christine Friedrich, Susanne Gschwendtner und Sarah Scherer wechseln sich in den Erinnerungen an typische Momente eines Frauenlebens organisch ab. Ob sie eine oder drei Figuren sind, fällt überhaupt nicht ins Gewicht, denn Ernaux begreift sich nie als etwas Besonderes, und so sind es völlig typische Erfahrungen einer ganzen Generation, von denen sie berichtet. Dabei ist das eigene Erwachsenwerden, die Pubertät, die Reibung am Elternhaus, immer parallelgeführt mit den gesellschaftlichen Umbrüchen - von den muffigen, engen 50er-Jahren, den Emanzipationsbewegungen der 60er bis zur Konsumorientierung in den 70ern: "Der Überfluss an Dingen verbarg den Mangel an Ideen und die Abnützung der Überzeugungen."

Nach Klassen und Geschlechtern

Doch nie macht Ernaux ein Hehl daraus, dass die Chancen ungleich verteilt sind - nach Klassen (so fahren etwa die Reichen zur Abtreibung in die Schweiz, die anderen landen unter lebensgefährlichen Begleitumständen am Küchentisch) und nach Geschlechtern. Die kühnsten Träume der Frauen sind jene von Freiheit - dieselbe Freiheit, die sich Männer nicht mehr erkämpfen mussten. Leichter lässt sich ein anderer Traum erfüllen: "1 Mann, 1 Kind, 1 eigene Wohnung". Erst später kommt frau darauf, was das meist bedeutet: "Lebensende mit drei Buchstaben: Ehe."

Am Boden sind Zeitlinien angebracht, von 1940 bis 2000, und mit der Zeit wird eine große, helle Holzkiste, in der die spärlichen Requisiten verstaut sind, von den Frauen vom Bühnenhintergrund entlang der Zeitleiste Richtung Publikum geschoben, Richtung Gegenwart. Die Begleitmusik liefern zeittypische Chansons und Songs auf Plattenspieler, Kassettendeck oder Walkman - sehr gut ausgewählt und mit nur wenigen Gesten signifikant begleitet. Es braucht nur ein paar Andeutungen und Bewegungen, um im ganzen Publikum Erinnerungen an linkische Annäherungsversuche bei den ersten Partys auszulösen.

Viel Applaus für eine Rückschau auf ein paar Jahrzehnte Gesellschafts- und Emanzipationsgeschichte, die ganz ohne Kitsch, aber nicht ohne Sentiment auskommt. Zu sehen nur noch bis Samstag, den 16. Dezember 2023.

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